Branche in der Krise: „Bevor das Pflegesystem an vielen Stellen kollabiert“

Der Caritasverband Ettlingen, der auch zwei Pflegeheime betreibt, geht in ein Insolvenzverfahren, haben die BNN unlängst gemeldet. Die Meldung schreckte viele auf.

Die Folgen der sich stapelnden Krisen sind in den jetzigen Strukturen kaum noch steuerbar.

Birgit Schaer
Freiburger Caritas-Vorständin

„Die Folgen der sich stapelnden Krisen sind in den jetzigen Strukturen kaum noch steuerbar“, warnt Birgit Schaer, Vorständin beim Caritasverband der Erzdiözese Freiburg.

Viele Häuser schließen das Jahr mit einem Defizit ab

Mehr als die Hälfte der Pflegeeinrichtungen im Südwesten haben laut Baden-Württembergischer Krankenhausgesellschaft (BWKG) das Jahr 2023 mit einem Defizit abgeschlossen. Die Pflegebranche schlägt Alarm, das System steht vor dem Kollaps. Was könnte helfen?

Was ist der Hauptgrund für die Probleme in der Pflege?
Der Personalmangel. „Mittlerweile können mindestens zehn Prozent der Plätze allein wegen des Personalmangels nicht belegt werden“, sagt Matthias Einwag, Hauptgeschäftsführer der BWKG. Schaer ergänzt: „46 Prozent der Caritas-Einrichtungen in Baden bieten derzeit aufgrund des Personalmangels weniger Plätze an als möglich wären.“ Fehlende Auslastung führt wiederum zu Mindereinnahmen. Der Personalmangel herrscht überall, ambulant wie stationär. „Es fehlt an gut ausgebildeten Pflegefachkräften, es fehlen aber auch Hilfskräfte, Auszubildende und kompetente Leitungskräfte“, sagt Manuela Striebel-Lugauer, Pflege-Abteilungsleiterin bei der Diakonie Baden.

Welche Folgen hat der Personalmangel?
Es ist ein Teufelskreis: Das Personal in der Pflegebranche ist überlastet, was wiederum zu hohen Ausfallquoten führt, was wiederum die Arbeitsverdichtung der verbliebenen Kräfte erhöht. Außerdem ist die Altersstruktur der Beschäftigten ein Problem. „In wenigen Jahren wird ein Großteil der Mitarbeitenden in Ruhestand gehen“, berichtet Schaer. „Erste Einrichtungsschließungen aufgrund von Personalnotständen und Unterfinanzierungen beschäftigen uns spürbar. Das Risiko weiterer Schließungen ist hoch“, befürchtet Schaer.

Was bedeutet das für Pflegebedürftige?
Die Präsidentin des Deutschen Pflegerats, Christine Vogler, beleuchtet das Drama: „Krankenhäuser können Patienten nicht mehr in ein Heim entlassen, weil keine Plätze frei sind. Sie können sie auch nicht nach Hause entlassen, weil keine ambulanten Dienste mit freien Kapazitäten da sind. Viele hilfsbedürftige Menschen finden keine Versorgung mehr.“

Welche Ansätze könnten weiterhelfen?
Das Sozialministerium in Stuttgart setzt unter anderem auf die Zuwanderung von Pflegekräften. Darüber hinaus müsse man aber auch mehr Fachkräfte im Inland gewinnen, etwa durch Wiedereinsteiger. Dafür brauche es bessere Arbeitsbedingungen im Pflegesektor. Minister Manfred Lucha (Grüne) setzt unter anderem auf das Pflegestudiumstärkungsgesetz, das seit Januar gilt. „Das steigert die Attraktivität des Studiums. Studierende haben künftig während der gesamten Studiendauer einen Anspruch auf Vergütung“, sagt Lucha.

Wie wird sich die Zahl der Pflegebedürftigen in Baden-Württemberg entwickeln?
Sie wird weiter steigen. Im Jahr 2021 gab es im Bundesland 540.000 Pflegebedürftige. Laut Statistischem Landesamt ist in Baden-Württemberg mit 25 Prozent mehr Pflegebedürftigen im Jahr 2040 und sogar mit 48 Prozent mehr im Jahr 2060 zu rechnen.

Welche Rolle spielt die Bürokratie?
Das ist einer der Zeitfresser. Einwag zählt auf, was neben der fachlichen Leistung alles zu tun ist: Dokumentation der
Personalausstattung, Hygienemaßnahmen, Schulungen, Qualitätssicherung, Zertifizierung, Vor- und Nachbereitung von
Qualitätsprüfungen und Heimaufsichtsbegehungen. „Diese Zeit fehlt für die Pflege und die Betreuung der Bewohnerinnen und Bewohner und wirkt sich demotivierend auf die Mitarbeiter aus“, sagt Einwag. Er fordert, den Dokumentationsaufwand in den Pflegeeinrichtungen um 50 Prozent zu reduzieren.

Welchen Stellenwert hat die Pflege in der Gesellschaft?
Kai Käßhöfer, Geschäftsführer der Karlsruher Sozialstation, findet, einen zu geringen. Zu wenige Menschen machten sich Gedanken darüber, wie sie später mal gepflegt werden wollen. „Wenn es dann so weit ist, treffen wir auf überforderte Menschen, emotionale Extremlagen, die auf uns projiziert werden und auf absolutes Unverständnis, dass eine 24/7-Leistung an jedem Tag des Jahres auch noch Geld kosten soll.“ Viele seien eher bereit, für Kleidung viel Geld auszugeben als für die Sicherstellung der pflegerischen Versorgung.

Gibt es Ansätze zu einer Pflegereform?
Ja. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach hat erst 2023 eine Pflegereform auf den Weg gebracht, die sowohl höhere Beiträge in die Pflegeversicherung als auch höhere Leistungen beinhaltet. Darüber hinaus hat er eine umfassende Pflegereform in Aussicht gestellt. Dazu gibt es aber erst Eckpunkte und noch keinen Gesetzentwurf.

Was ist eines der größten Probleme dabei?
Das fehlende Geld. Striebel-Lugauer spricht von einer permanenten Unterfinanzierung des Systems. Daher plädieren viele Fachleute und Verbände für das Modell eines Sockel-Spitze-Tauschs. Das wäre die Umkehr der heutigen Finanzierung. Bisher bezahlt die Pflegekasse einen festen Sockelbetrag, und die nach oben offene Spitze zahlen die Kunden als Eigenanteil. Der Tausch würde bedeuten, der Pflegeversicherte würde nur einen festgelegten Sockelbetrag bezahlen, und die Pflegekasse übernimmt alle weiteren Kosten. Dafür müssten allerdings mehr Steuermittel in das System gepumpt werden. Käßhöfer fordert so einen Systemwechsel, „und das zwingend, bevor das System an vielen Stellen kollabiert“.

Wie steht die Landesregierung dazu?
Lucha schließt sich der Forderung an. „Ich setze mich seit Jahren für einen Sockel-Spitze-Tausch bei der Finanzierung der Pflegeleistungen ein, damit die Mehrausgaben nicht mehr automatisch zulasten von Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen gehen“, sagt Lucha unserer Redaktion.

Was ist den Fachleuten noch wichtig?
Sie wünschen sich, raus aus der Negativspirale zu kommen. Käßhöfer spricht von einem Imageproblem und Frusterlebnissen des Personals. Legenden über die schlechte Bezahlung und „all diese Geschichten hindern uns daran, die positiven, wichtigen und guten Seiten des Pflegeberufs abzubilden“.

Quelle: Badische Neueste Nachrichten, Badendruck GmbH (Lizenzierter Artikel für eine Online-Veröffentlichung)
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